Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat das wohl bislang wegweisendste Urteil im Abgasskandal gesprochen (Az. C-100/22). Demnach haftet ein Automobilhersteller gegenüber einem Verbraucher auch dann, wenn ihm keine betrügerische Absicht beim Verbau von unzulässigen Abschalteinrichtungen nachgewiesen werden kann. Bislang sind Verfahren gegen Mercedes Benz, BMW und Fiat vor allem auch daran gescheitert, dass der Nachweis der Betrugsabsicht schwer bis unmöglich war. Mit dem Urteil sind die Chancen auf Schadensersatz für Eigentümer von Fiat Ducato Wohnmobilen immens gestiegen. Allerdings müssen vom Bundesgerichtshof (BGH) noch wichtige Fragen geklärt werden - eilig haben es Eigentümer betroffener Wohnmobile daher nicht.
Jedes Gericht in der Europäischen Union kann dem EuGH über ein sogenanntes Vorabentscheidungsverfahren Rechtsfragen zur Klärung vorlegen. Dies hatte das Landgericht (LG) Ravensburg im Februar 2021 in einem Verfahren gegen die Mercedes Benz AG getan: der EuGH sollte klären, ob nach europarechtlichen Vorschriften ein Automobilhersteller gegenüber einem Verbraucher haftet, wenn sein Fahrzeug eine illegale Abschalteinrichtung enthält - und zwar auch für den Fall, in welchem der Hersteller diese Abschalteinrichtung nur fahrlässig im Fahrzeug verbaut hat. Bislang stellten die deutschen Gerichte strenge Anforderungen an die Täuschungsabsicht und lehnten eine Schadensersatzpflicht bei fahrlässigem Handeln strikt ab. Nur wenn ein sogenanntes sittenwidriges Verhalten nachgewiesen werden konnte, war der Hersteller dem Käufer gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet. Dieser Nachweis konnte bisweilen nur im Volkswagen Abgasskandal geführt werden und folglich sind zahlreiche Klagen gegen andere Hersteller von Diesel-Fahrzeugen oft abgewiesen worden. Zuletzt lagen tausende Dieselklagen in Erwartung der EuGH Entscheidung auf Eis.
Im konkreten Fall ging es um ein sogenanntes Thermofenster, also eine Abschalteinrichtung, welche die Abgasreinigung nur bei bestimmten Außentemperaturen aktiviert ließ. Fahrzeuge mit Thermofenstern stoßen folglich sehr viel mehr Stickoxide und andere Schadstoffe aus, als dies nach den gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist. Laut EuGH Urteil vom 14. Juli 2022 handelt es sich bei einem Thermofenster um eine illegale Abschalteinrichtung. Diese wird nahezu standardmäßig von den allen Herstellern verwendet - auch Fiat Ducato Motoren enthalten ein Thermofenster. Die bisherigen Klagen im Wohnmobil Abgasskandal richteten sich vor allem auf die sogenannte Timer-Funktion, welche die Abgasreinigung nach 22 Minuten - also exakt nach Ablauf eines Testzyklus im Labor - deaktivierte. Diese Timer-Funktion ist jetzt allerdings in den Hintergrund gerückt.
In seinem Schlussplädoyer vom Juni 2022 forderte der EU Generalanwalt die Haftung bei Fahrlässigkeit. Dieser Position schloss sich der EuGH in seinem Aufsehen erregenden Urteil vom 21. März 2023 (Az. C-100/22) an und positionierte sich eindeutig auf Seiten der Verbraucher. Demnach garantiere die Übereinstimmungsbescheinigung, durch welche der Hersteller dem Käufer gegenüber erklärt hat, dass sein Fahrzeug den gesetzlichen Vorgaben entspricht, nicht nur den Schutz der Umwelt, sondern auch den der Verbraucher. Daher ist der Hersteller schadensersatzpflichtig. Und zwar auch für den Fall, dass er nur fahrlässig gehandelt hat.
Mit dieser konsequenten Entscheidung hat der EuGH die strengen deutschen Regelungen zur Sittenwidrigkeit nun massiv aufgeweicht und die Hürden für erfolgreiche Klagen im Dieselskandal erheblich gesenkt. Es ist davon auszugehen, dass Millionen Dieselfahrer in Deutschland nun einen Anspruch gegen eigentlich alle Hersteller haben - und über diese nun eine Klagewelle nie gesehenen Ausmaßes hereinbricht. Trotzdem sind zahlreiche Rechtsfragen noch nicht geklärt, wie z.B. welche Abschalteinrichtung zulässig ist und welche nicht, welche Anforderungen an die Fahrlässigkeit gelten und wie die Höhe des Schadensersatzes ausgestaltet sein muss. Diese Fragen müssen von den nationalen Gerichten noch näher definiert werden. Zur Höhe des Schadensersatz gab der EuGH die Leitlinie aus, dass dieser wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müsse. Für Anfang Mai 2023 hat der BGH hierzu eine grundlegende Entscheidung angekündigt, welche für den Verlauf der weiteren Verfahren maßgeblich sein wird. An der grundsätzlichen Schadensersatzpflicht wird es keinen Zweifel geben, allerdings könnte eine BGH-Entscheidung mit viel Interpretationsspielraum die Verfahren vor den Landgerichten erschweren.
Für Eigentümer von Fiat Ducato Wohnmobilen bedeutet diese Entscheidung vor allem Folgendes: die Chancen Schadensersatz für ihr Wohnmobil zu erhalten haben sich nach der jüngsten Entscheidung erheblich verbessert und es ist davon auszugehen, dass Fiat Ducato Diesel Klagen bald flächendeckend erfolgreich sein werden. Nach der bisherigen Rechtsprechung der Gerichte im Abgasskandal steht einem Käufer eines betroffenen Fahrzeugs Schadensersatz in Höhe von 20-25% des Kaufpreises zu. Rechtsschutzversicherungen sind verpflichtet solche Klagen zu finanzieren. Für Nicht-Rechtsschutzversicherte Wohnmobil Eigentümer wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Möglichkeit ergeben das Verfahren von einem sogenannten Prozessfinanzierer finanzieren zu lassen. In diesem Fall trägt der Finanzierer die gesamten Kosten der Fiat Ducato Klage, erhält im Erfolgsfall dafür einen prozentualen Anteil am Schadensersatz. In einem fortgeschrittenerem Stadium der Verfahren gegen Fiat könnte auch die Selbstzahlung eine Option sein. Die genauen Kosten hängen dabei von der Höhe des Streitwerts ab und werden nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) berechnet.
Eile ist erstmal nicht geboten, auch wenn das Thema der Verjährung und der Verringerung des Schadensersatzes durch Nutzungsersatz (sofern noch relevant) im Auge behalten werden sollte. Trotzdem sollten Schadensersatzansprüche ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Schließlich geht es nicht nur darum, Schadensersatz zu erstreiten, sondern auch den massiven und systematischen Abgasbetrug der vergangenen Jahre zu sanktionieren. Unsere Kanzlei empfiehlt ihren Mandanten jedenfalls, noch die Entscheidung des BGH im Mai 2023 abzuwarten und erst auf dieser Grundlage weitere Schritte einzuleiten. Zum Thema der Rückrufe und Nachrüstungen hat sich der EuGH nicht geäußert. Auch im Anbetracht der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Schleswig vom Februar 2023 ist davon auszugehen, dass es auch hier in den nächsten Monaten einige Bewegung geben dürfte. Eine zivilrechtliche Schadensersatzforderung ist von Rückrufen und Nachrüstungen allerdings völlig losgelöst. Auch ohne Rückrufe ist eine Schadensersatzforderung möglich.
ts